Gäbe es Angst nicht, gäbe es uns nicht mehr. Unsere Vorfahren wären wohl längst von Mammuts zertrampelt worden oder von Felsvorsprüngen gestürzt. Angst ist nützlich. Sie schlägt Alarm im Körper, wenn wir äußere Gefahren registrieren. Beim Anblick einer Schlange lässt uns die Angst binnen Zehntelsekunden zurückspringen.
Doch für so manchen braucht es kein giftiges Tier, um den Körper auf Hochtouren zu bringen. Eine U-Bahn-Fahrt kann schon genügen. Laut einer groß angelegten Studie aus dem Jahr 2014 litten schätzungsweise 15 Prozent der Deutschen in den vergangenen 12 Monaten unter einer Angststörung.
Wie entstehen Angststörungen? Auf diese Frage hat die Wissenschaft noch keine definitive Antwort gefunden. Die Psychoanalyse führt die Erkrankung meist auf traumatische Kindheitserlebnisse zurück, wie zum Beispiel die Trennung von der Mutter in den frühen Kindesjahren. Für viele Forscherinnen und Forscher ist dieser Erklärungsansatz allerdings nicht überzeugend. Sie messen der Neurologie eine größere Bedeutung zu.
Das Zentrum für die Bewertung von Gefahren befindet sich im Gehirn. Dem Angstforscher Borwin Bandelow zufolge ist es bei Menschen mit Angststörungen überempfindlich eingestellt – ähnlich wie ein defektes Heizungsthermostat. Im Normalzustand stoppt das Thermostat den Heißwasserzufluss, sobald die gewünschte Wärme erreicht ist. Ist es kaputt, strömt ununterbrochen Heißwasser in den Heizkörper und der Raum wird immer wärmer.
So ungefähr muss man sich laut Bandelow die Prozesse im Gehirn vorstellen: Ein bestimmter Hirnabschnitt schlägt unnötig Alarm. Forscher gehen davon aus, dass es sich bei dem menschlichen Thermostat um die Amygdala handelt. Sie ruft in Windeseile den Notstand im Körper aus. Ihr Widerpart ist der Gyrus cinguli im limbischen System. Er analysiert alle erfassten Reize. Registriert er einen Fehlalarm, kann er Entwarnung geben. Bei Menschen mit Angststörung scheint auch dieser Mechanismus nicht richtig zu funktionieren. Zudem spielen unsere Gene eine Rolle. Ob wir zu einer Angststörung neigen, wird uns zu einem gewissen Teil vererbt.
So unterschiedlich die Ursachen für eine Angststörung sind, so unterschiedlich sind auch die Ausprägungsformen. Angst ist also nicht gleich Angst. Hier finden Sie die verschiedenen Arten der Angststörung im Überblick.
Generalisierte Angststörung
Wovor besteht die Angst?
Betroffene haben übermäßige Angst vor einem Unglück oder einer Erkrankung. Sie machen sich viele unbegründete Sorgen um alltägliche Lebensumstände wie ihren Beruf oder befürchten, dass den eigenen Kindern schlimme Dinge wie etwa Unfälle passieren könnten.
Was macht die Angst mit Betroffenen?
Die übermäßigen Sorgen sind unkontrollierbar, und Betroffene können sie nicht unterdrücken. Beispiel: Während eines wichtigen beruflichen Termins wird der Betroffene die Angst nicht los, den Kindern könnte auf dem Schulweg etwas zugestoßen sein. Anders als bei anderen Angststörungen lassen sich angstauslösende Situationen nicht vermeiden, weil die Angst nicht mit konkreten Situationen verbunden ist. Die Folge: Betroffene sind ruhelos und unkonzentriert und selbst nach einfachen Tätigkeiten schnell müde. Im schlimmsten Fall lässt die Angst keine Kraft mehr für die alltäglichen Aufgaben.
Berühmte Betroffene der Angst:
Die Schriftstellerin Charlotte Roche sprach in einem Interview über ihre Angststörung: „Ich habe Angst vor Einbrechern oder dass meiner Familie etwas zustößt. Ich hatte sogar eine Zeit lang Angst, dass plötzlich die Erdanziehung nicht mehr da ist und wir alle wegfliegen.“
Agoraphobie
Wovor besteht die Angst?
Die Agora war in der griechischen Antike der zentrale Marktplatz. Agoraphobie ist die Angst vor öffentlichen Plätzen, Menschenmengen, weiten Reisen oder Reisen ohne Begleitung. Dahinter steht eine Angst vor Kontrollverlust: Betroffene befürchten zum Beispiel, dass sie im Falle einer Panik oder einer Peinlichkeit nicht schnell genug flüchten können.
Was macht die Angst mit Betroffenen?
Sie vermeiden die Öffentlichkeit. Um etwa nicht in den Supermarkt gehen zu müssen, lassen sich Betroffene das Essen nach Hause liefern. In besonders ausgeprägten Fällen sind sie völlig an das eigene Zuhause gebunden und können es wochen- oder gar monatelang nicht verlassen.
Berühmte Betroffene der Angst:
Der Regisseur Woody Allen leidet unter Agoraphobie, ebenso die Hollywood-Schauspielerin Kim Basinger.
Spezifische Phobie
Wovor besteht die Angst?
Bei einer spezifischen Angststörung können Betroffene sehr genau benennen, wovor sie sich fürchten. Entweder sind es Objekte, beispielsweise Spinnen oder Spritzen, oder eine Situation, zum Beispiel einen Ort in großer Höhe. Die Anzahl der Dinge, die Angst auslösen können, ist fast unbegrenzt.
Was macht die Angst mit Betroffenen?
Die Angst wird größer, je näher das Objekt oder die Situation kommt – und zwar jedes Mal, wenn das geschieht. Betroffene vermeiden deshalb solche Situationen aktiv, was auch zu speziellen Verhaltensmustern führen kann: Um beispielsweise zu sehen, ob eine Spinne im Raum ist, muss stets das Licht an sein, bevor der Betroffene ihn betritt.
Berühmte Betroffene der Angst:
Johann Wolfgang von Goethe litt unter Höhenangst. Er besiegte sie nach eigener Aussage, indem er auf den Turm des Straßburger Münsters stieg. Goethe schrieb: „Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis mir der Eindruck ganz gleichgültig ward.“
Soziale Angststörung
Wovor besteht die Angst?
Bei einer sozialen Angststörung fürchtet man sich davor, von anderen Leuten negativ bewertet zu werden. Nicht zu verwechseln mit Schüchternheit: Auch Menschen ohne Angststörung sind oft aufgeregt, wenn sie etwa eine öffentlich Rede halten müssen. Menschen, die unter einer sozialen Phobie leiden, machen Situationen, in denen sich die Aufmerksamkeit auf sie richtet, allerdings viel stärker zu schaffen. Bewegen sie sich in einer anonymen Menschenmasse, ist die Angst kein Problem. Überschaubare Gruppen, wie ein Kaffee und Kuchen bei Oma Hilde, können dagegen Probleme bereiten.
Was macht die Angst mit Betroffenen?
Entweder sie vermeiden sozialen Kontakt – oder sie ertragen die Situationen. Dabei erleben sie intensive Angstsymptome: Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Erröten, Harn- oder Stuhldrang. Im schlimmsten Fall steigert sich das zu einer Panikattacke. Das Problem: Betroffene befürchten, dass man ihnen die Angstsymptome ansehen könnte.
Berühmte Betroffene der Angst:
2004 erhielt Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis, den sie wegen ihrer sozialen Angststörung nicht persönlich in Empfang nahm. Auch die Sängerin Adele hat Angst vor der großen Bühne – es ist mehr als nur ein bisschen Lampenfieber: Während ihrer Shows erlitt sie bereits Panikattacken. Heute hat sie die Krankheit unter Kontrolle.
Panikstörung
Wovor besteht die Angst?
Diese Angststörung ist nicht an spezifische Objekte oder Situationen geknüpft. Die Betroffenen fürchten sich allerdings vor der nächste Panikattacke. Sie haben Angst vor der Angst.
Was macht die Angst mit Betroffenen?
Menschen, die unter einer Panikstörung leiden, durchleben wiederholte Panikattacken. Das sind plötzlich auftretende Angstschübe, die innerhalb weniger Minuten ihren Höhepunkt erreichen. Sie treffen die Betroffenen wie aus heiterem Himmel. Zu den körperlichen Symptomen zählen: Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Atemnot, Erstickungsgefühle, Übelkeit, Schwindel und die Angst „verrückt zu werden“ oder zu sterben. Häufig entwickelt sich aus der Panikstörung eine → Agoraphobie, da die Betroffenen in bestimmten Situationen befürchten, nicht schnell genug Hilfe zu bekommen.
Berühmter Betroffener der Angst:
Charles Darwin war 28 Jahre alt, als er plötzlich unerklärliche Anfälle erlitt. In seinen Tagebüchern und Briefen notierte er viele der typischen Symptome und schränkte sein Leben weitgehend ein. Heutzutage hätte man wohl eine Panikstörung bei ihm diagnostiziert – und ihm wahrscheinlich helfen können.