Es beginnt immer gleich: Isabells Herz hämmert schnell. Immer härter drischt es gegen ihre Brust. Dann hört sie das Blut. Es rauscht viel zu wild durch ihre Adern. Panik raubt ihrer Lunge den Sauerstoff. Verzweifelt hechelt sie nach Luft. Zehn Minuten dauert der vermeintliche Todeskampf, dann hört es auf. Sie bleibt erschöpft zurück. Ihre Kleidung ist schweißgetränkt.
Isabell leidet unter immer wiederkehrenden Panikattacken. Mal kommen sie am Tag, häufig in der Nacht, jedes Mal scheinbar ohne Grund. Die 23 Jahre alte Studentin aus Würzburg ist eine von mehr als drei Millionen Betroffenen in Deutschland, die an einer akuten Panikstörung leiden. Das zeigt eine gemeinsame Studie des Robert-Koch Instituts und des Statistischen Bundesamts. „Es gibt keine einzelne Ursache dafür, sondern eine Ursachen-Kaskade“, sagt Peter Zwanzger, Chefarzt für Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatik in Wasserburg am Inn. „Zum einen gibt es die individuelle Präposition, zum anderen spielen auch psychologische Faktoren eine Rolle“, sagt er. Individuelle Präposition, das ist die genetische Veranlagung eines Menschen. Bei einer Panikstörung handle es sich nicht um eine Erbkrankheit, dennoch könne eine bestimmte erbliche Veranlagung ihr Aufkommen begünstigen oder erschweren. Zu den psychologischen Faktoren zählt Zwanzger beispielsweise Kindheitstraumata, aber auch alltägliche Erfahrungen wie Angst um den Arbeitsplatz oder Trennung vom Partner. „Jede Panik ist anders, genau wie jeder Mensch“, erklärt er. „Es gibt keinen klassischen Fall, aber klassische Symptome.“
Jede von Isabells Panikattacken kündigt sich ihr durch eine viel bewusstere Wahrnehmung ihrer Körperfunktionen an. „Es ist richtig unheimlich. Ich höre mein eigenes Herz laut schlagen, spüre mein Blut fließen“, erzählt sie. „Das fühlt sich so abnormal an, dass du denkst, irgendetwas in dir geht kaputt.“ Sie sitzt auf der Matratze ihres Bettes, dem Ort, an dem die Panik sie am häufigsten überkommt. Wenn sie in der Nacht aus den Laken wälzt, weil sie auf die Toilette muss oder Durst hat, erwacht oft auch die Angst. „Dein ganzer Körper funktioniert schneller, lauter, aktiver“, beschreibt Isabell diese Momente. „Am Anfang fühlst du dich, als hättest du zu viel Sport gemacht. Aber anstatt wieder runter zu kommen, dreht dein Körper weiter auf, bis du glaubst, jeden Moment zu kollabieren, und dann noch ein Stück weiter, und irgendwann kommt dieser Punkt. Du stirbst.“
Was Isabell beschreibt, sind die Auswirkungen eines Neuro-Hormons. „Adrenalin überschwemmt bei einer Panikattacke den Körper und führt häufig zu abwechselnden Hitze- und Kälteschauern sowie zu Herzrasen“, erklärt Katharina Domschke, ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg. Eine heftige Panikattacke sei eine Art „Adrenalinsturm“, der durch den Körper tose. Solche Mengen des neuronalen Botenstoffs werden normalerweise nur ausgeschüttet, wenn unser Leben in Gefahr ist. Bei einer Panikattacke sorgen „subtile Verstellungen im vegetativen Nervensystem für die Ausschüttung“, sagt Domschke. Dass Isabell ihre Attacken oft im Zustand zwischen Schlafen und Wachen erleidet, ist für die Ärztin verständlich. Das vegetative Nervensystem sei da noch durcheinander und reagiere empfindlich. Auch die Todesangst sei üblich. „Viele Betroffene haben das Gefühl, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren und geraten immer weiter in Panik“, erklärt Domschke.
Die Folge: Angst vor der Angst. Die Furcht vor den Panikattacken steigerte sich bei Isabell so weit, dass sie nachts nicht mehr schlafen gehen wollte. Sie sah sich Serien an oder las Bücher, oft so lange, bis sie vor Erschöpfung wegdämmerte. Wo andere aus Angst vor Alpträumen den Schlaf scheuen, fürchtete sie sich vor dem Aufwachen. „Es gab Wochen, in denen ich während sieben Tagen zusammen weniger als 20 Stunden geschlafen habe“, erzählt Isabell. „In der Uni war ich unkonzentriert, privat zu kaputt, um etwas mit Freundinnen zu machen. Es dauerte nur ein paar Wochen, dann war ich allein.“ Besser wurde es dadurch nicht. Im Gegenteil, die Attacken kamen immer häufiger.
Peter Zwanzger kennt viele Fälle, in der die Angst vor der Angst das Leben bestimmt. „Angststörungen führen häufig zu einem Vermeidungsverhalten “, sagt der Chefarzt aus Wasserburg. Stattdessen müsse man sich den Reizen stellen, die die Angst auslösen. Diese Konfrontationen finden üblicherweise in einer kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) statt . Dort gelte es, die Kontrolle über die Gefühle zu erlangen, erklärt Zwanzger. „Der Betroffene muss lernen, dass der schnelle Herzschlag nicht für eine Gefahr steht, sondern sich bald wieder verlangsamt. So kann er die sich selbst steigernde Angst verlernen.“
In einer KVT lernen Patienten, wie sie mit Panikattacken besser umgehen können. Eine Übung, die Katharina Domschke empfiehlt, ist, einige Symptome hervorzurufen und nachzustellen: Etwa Schwindelgefühl mithilfe eines Drehstuhls, oder schnellen Herzschlag durch Sportübungen. Patienten erinnern sich an die Übungen, wenn die Panikattacke kommt. So können sie besser ruhig bleiben. Ist die Angst vor der Angst schon zu heftig ausgeprägt, könne die Einnahme von Medikamenten helfen, sagt Domschke.
Isabell hat nie Medikamente eingenommen. In Internet-Foren hat sie von Gefahren gelesen, wie etwa Abhängigkeit. Stimmt das? „Keine Angst vor Medikamenten“, entgegnet Katharina Domschke. „In der modernen Medizin verwenden wir Antidepressiva, die nicht abhängig machen und gut verträglich sind.“ Trotzdem brauche es zusätzlich immer die Psychotherapie. „Die beste Lösung ist es, beides zu nutzen.“ Peter Zwanzger hingegen empfiehlt Antidepressiva nur dann, wenn die Angst vor der Angst den Alltag beherrscht oder so groß ist, dass die Patienten sich sonst nur schwer auf die Psychotherapie einlassen. „Im Laufe eines Lebens kann es trotzdem immer wieder zu Angstepisoden kommen“, sagt Zwanzger. Betroffene lernen durch die KVT deswegen Techniken, um die Panik unter Kontrolle zu halten.
Auch Isabell begab sich ein halbes Jahr lang in Therapie. Sie traf sich einmal in der Woche mit einer Psychologin und lernte von ihr Sportübungen und „Seelenmantras“. So nennt Isabell die Sätze, die sie eingeübt hat und vor sich her sagt wie ein Gebet, wann immer eine Attacke kommt. „Alter Affe Angst“, ist so ein Satz. Während sie ihn aufsagt, stellt sich Isabell die Angst als einen Gorilla vor, setzt ihm einen lächerlich großen Hut auf oder verziert ihn mit Lippenstift und Nickelbrille. „Das lenkt mich ab und hilft mir, mich zu beruhigen.“ Die Angst tut sich schwer, gegen ein Lachen.
Bilder: Manuel Stark