Kurze Momente genügen, um in Katharina Maurers Kopf ein Chaos zu verursachen: Ein Blick, ein Lachen oder ein Tuscheln lösen in ihr tagtäglich Angst und Unsicherheit aus.

Abwarten. Zuhören. Was sagen die? Eine Frau, ein Mann, ein Pärchen, sie gehen. Hände schwitzen, cool bleiben, atmen, atmen. Nichts passiert. Er zahlt, sie zieht ihre Jacke an. Er hilft ihr nicht. Sie lächelt. Haben sie gehört, was ich erzähle? Beide gehen. Erleichterung. Wegschauen. Ein Passant, schnell – bewegt sich auf das Café zu. Übelkeit. Schweiß, Hände. Karte fällt um, lachen. Fenster. Suche den Passanten, Blicke treffen sich – zu lange. Warum schaut er mich an? Was denkt er über mich? Kennt er mich? Wegschauen, beide. Er geht. So wichtig bin ich auch nicht.

„Entschuldigung, was war Ihre Frage?“

Katharina Maurer* konzentriert sich wieder. Die Frage war: „Wie geht es Ihnen gerade?“ – „Ich lerne abzuschalten, es klappt schon besser. Trotzdem checke ich alles ab und weiß, wo wer sitzt“, sagt sie und schwenkt mit der Hand einmal durch den Raum. Das Café ist beliebt in München. Gäste warten an der Tür auf Sitzplätze. Spitzenvorhänge, Kronleuchter, 50er-Jahre-Sessel, die leicht einsacken, wenn man sich hineinsetzt. Ein Oma-Café, dem nur die Eierlikör servierende, Nachmittagskuchen reichende Oma fehlt. Tische dicht aneinander. Gespräche nebenan mischen sich mit den eigenen. Für Katharina eine echte Herausforderung.

Katharina hat eine soziale Phobie. Negative Gedanken rasen durch ihren Kopf. Sie nennt sie „Katastrophen-Gedanken“. Ihr Selbstwertgefühl ist fremdbestimmt, permanent reflektiert sie ihr eigenes Handeln. Sie fühlt sich von ihrem Umfeld beobachtet oder kritisiert. Es ist, als stünde sie ständig vor einem Spiegel, vor dem sie ein Gedicht für eine Halle voll Menschen einüben muss.

Seit Mitte November besucht die 26-Jährige eine Tagesklinik für Patienten mit Angststörungen. Ihre Therapie endet in drei Wochen, dann will sie wieder arbeiten, als „Fisch im Haifischbecken“, wie sie es nennt. Sie – der verängstigte Fisch, die Haie: drei- bis sechsjährige Kinder. Katharina ist Erzieherin in einer Kindertagesstätte. Sie weiß, dass sie gut in ihrem Job ist, dass sie kreativ ist, vor allem im Umgang mit Kindern, und dass ihr Details auffallen, die andere nicht bemerken.

Viele Menschen verstehen nicht, wie jemand mit einer sozialen Phobie als Erzieherin arbeiten kann. Deshalb möchte sie ihren richtigen Namen für sich behalten.

Mit 15 merkt Katharina das erste Mal, dass etwas nicht stimmt. Sie zieht sich immer mehr zurück, besucht selten Freunde. Ihre Eltern wollen zwar nur das Beste, setzen sie aber unter Druck. Ihre Noten sind nicht gut genug. In der Schule ist Katharina eher eine Ruhige, die Mitschüler mobben sie. Katharina wird immer stiller, traut sich nicht mehr, vor der Klasse zu sprechen oder sich zu melden. Oft versteckt sie sich in der Schultoilette und weint.

„Warum haben Sie den Lehrern nichts gesagt?“ – „Die hätten es schlimmer gemacht. Ich wäre dann das Opfer gewesen.“

Nach der Schule, hofft sie, wird alles besser. Aber auch während der Ausbildung zieht sich Katharina früh zurück, spricht kaum mit ihren Mitschülern. Es dauert nicht lang, und Katharina wird von den anderen kaum mehr beachtet. „Ich habe ihr Getuschel im Nacken gespürt“, sagt sie. Schon damals ist sie Gefangene ihrer Angst: Jede Gestik und Mimik von Menschen in ihrem Umfeld, bezieht sie auf sich selbst.

Mit 18 sucht Katharina Rat bei einer Psychologin. Doch die Therapeutin fragt sie aus, ohne ihr wirklich zuzuhören, stochert bloß in Ereignissen aus ihrer Vergangenheit herum und stellt keine Diagnose. Fast drei Jahre lang geht das so. Anstatt ihr zu helfen, verstärkt die Therapie ihre Angst. „Damals wusste keiner, wie man mit einer sozialen Phobie umgeht. Es wurde nicht darüber geredet.“ Katharina nannte ihre Krankheit „die Art“, eine eklige Sache, die sie schnell loswerden wollte.

Schließlich findet sie 2016 die richtige Tagesklinik und beginnt eine Gruppentherapie. Seitdem nennt sie ihre Krankheit beim Namen: „Angst“. Ihr geht es besser damit.

Mitte Februar 2017. Katharina ist erleichtert. Die letzten vier Monate hatte sie Ruhe und Zeit sich mit ihrer Krankheit zu beschäftigen. Und mit sich selbst. „Davor war ich mir egal, ich habe mich abgelehnt. Jetzt kenne ich meine Stärken.“ Ihre Angst ist nun ihr Begleiter, ein nicht besonders sympathischer zwar, mit dem sie oft streitet, der sie noch verunsichert. Aber einer, mit dem sie zurechtkommt. Ihren Alltag bewältigt sie ohne Probleme. U-Bahn fahren: funktioniert. Einkaufen in der Stadt: funktioniert. Und sie hat in der Therapie Freunde gefunden. Mit einer Patientin telefoniert sie täglich.

Ihre schwerste Prüfung aber steht ihr noch bevor: Sie wird wieder in der Kita arbeiten.

Hand am Türgriff, kühl, drücken, Türe auf. Herz schlägt. Kinder. Ich will nur kurz rein, Kopf reinstecken und raus. Herz? Schlägt. Hände schwitzen, Kloß im Hals. Du schaffst das! Arbeiten. Lange nicht mehr. Atmen, ruhig atmen. Geschrei, Spielen, zwei Kinder in der Ecke, Bauklötze. In der Mitte, Kollegin, Hoffmann. „Hallo.“ Hallo? Warum antwortet sie nicht? Ihre Augen, ihr Blick? Leer, schaut mich nicht an. Beschäftigt? Mag sie mich nicht? Was habe ich falsch gemacht? Ich gehe. Kinder sehen mich.



„Hallo Frau Maurer, sind Sie wieder bei uns? Wo waren Sie?“ – „Ich war auf Kur. Es ging mir nicht gut und ich musste mich erholen.“

Die Kinder glauben ihr. Erzieherinnen sind hohen Belastungen ausgesetzt. Es kommt deshalb oft vor, dass sie mal für zwei Monate weg sind. Daran haben sich die Kinder gewöhnt.

Katharinas Chef ist eingeweiht. Er unterstützt sie: Katharina darf ihr eigenes Tempo wählen. Am ersten Tag schaut sie nur kurz in die Gruppen und begrüßt alle. In den folgenden Tagen spielt sie mit den Kindern oder tanzt an Fasching. Erst will sie einfach „Spaß haben“, bald aber wieder zu hundert Prozent funktionieren. Immer wieder zweifelt sie an sich. Es ist, als habe sie gerade den Führerschein gemacht und müsse nun einen LKW lenken. Sie merkt, dass sie manchmal Abläufe durcheinander bringt oder Sachen vergisst. Und doch macht sie große Fortschritte: Vor der Therapie fielen ihr selbst Routineaufgaben schwer. Das Wichtigste aber: Katharina hat keine Angst mehr davor, die Kinder könnten sie ablehnen.

Nach einer Weile trifft Katharina ihre Kollegin wieder, die sie am ersten Tag noch ignoriert hatte. „Guten Morgen“, sagt Frau Hofmann freundlich. Katharina ist verwirrt – und spricht sie darauf an. Es stellt sich heraus, dass die Kollegin Katharina nicht bemerkt hatte, als sie den Raum betreten hatte. Ein einfaches Missverständnis. Für Katharina ist es manchmal schön, falsch zu liegen.

 

*Name geändert

Bilder: Viktor Forgacs/Unsplash