Über 50 Gipfel hatte ich in dem Jahr schon hinter mir, eigentlich wollte ich gar nicht mehr. Aber irgendetwas trieb mich weiter. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich wahrscheinlich meinen Problemen entkommen wollte: Meine Tochter war eineinhalb Jahre alt, ihre Mutter und ich hatten uns getrennt, es war sehr schwierig. Vermutlich wollte ich dem ausweichen.
Es war Allerheiligen, der 1. November 2011, ein strahlender Herbsttag. Kalt, Sonne, klare Luft. Mit zwei Freunden ging ich auf die Marienbergspitze, ein Berg westlich der Zugspitze. Die Marienspitze wird nicht oft bestiegen, es gibt keine festen Routen, keine Markierungen. Eigentlich kein besonders schwieriger Berg, aber man muss sich seinen Weg selbst suchen. Das ist natürlich der Reiz an der Sache. Der Fels ist tückisch, kein harter Granit, sondern sehr bröselig und porös.
Relativ kurz unter dem Gipfel kam ein Grat. Ein langes, schmales Band, über das man gehen musste, total einfach. Rechts war sogar ein Handlauf. Links ging schräg die Felswand ab, 500 Meter in die Tiefe. Ich ging voraus, setzte eine Hand neben die andere und machte kleine Schritte. Aber der Nordalpenkalk, der eh schon brüchig ist, war über Nacht gefroren. Plötzlich brach ein Stück unter meinen Füßen weg. Ich verlor das Gleichgewicht, versuchte mich zu halten, aber keine Chance. Ich fiel.
Als ich über den Grat ging, hatte ich null Angst. Das wurde mir zum Verhängnis. Auch während ich fiel, hatte ich keine Angst. Ich war mir einfach sicher, dass ich sterben würde. Es ging 500 Meter runter, ich wusste nicht, was mich hätte aufhalten sollen. Mehrmals knallte ich mit der rechten Seite gegen die schräge Felswand und brach mir dabei achtmal den Oberarm. Nach knapp 40 Metern schlug ich plötzlich auf einem winzigen Flachstück auf. Ich war auf meinem Rucksack gelandet. Da lag ich nun. Mein Körper war zerbrochen, aber ich musste mich mit den Fersen in den Boden stemmen, sonst wäre ich weitergerutscht. Mit zertrümmerten Knochen lag ich da und wusste, ich darf nicht ohnmächtig werden, sonst bin ich tot. Zwei Stunden musste ich so auf den Hubschrauber warten. Angst hatte ich dabei nicht.
Die Angst kam erst im Krankenhaus. Erst war es eine rein körperliche Angst: Mein rechter Arm war gelähmt. Die Ungewissheit, ob ich meinen Arm je wieder bewegen können würde, war schrecklich.
Die wirkliche Angst aber ist die Angst vor dem Tod. Und die hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Die Erfahrung, fast zu sterben, war gewaltig. Während ich in den Tod fiel, hatte ich das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, jetzt zu sterben. Dass ich so vieles unerledigt zurücklassen würde. Meine kleine Tochter, die einen Vater braucht. Diese Verantwortung spürte ich in diesem Augenblick so stark wie nie zuvor.
Seither habe ich Angst davor, dem Tod wieder mit diesem Gefühl zu begegnen. Ich weiß, ich werde wieder in die Situation kommen, gleich zu sterben. Nicht am Berg, ich gehe keine Touren mehr. Aber in einem Krankenhaus, oder auf der Straße. Wenn ich dem Tod ins Gesicht sehe, will ich aber nicht das Gefühl haben, etwas unerledigt zurückzulassen.
Ich bin kein völlig neuer Mensch geworden. Aber die Angst vor dem Tod gibt dem Leben eine andere Dramaturgie. Sie ist gut als Mahnung im Hintergrund.
Tobias Hürter, Jahrgang 1972, hat Philosophie und Mathematik studiert und ist dann Journalist geworden. Er liebt die Berge, auch nachdem er von einem gestürzt ist, geht sie aber nun vorsichtiger an. Über seinen Absturz und die Folgen hat er ein Buch mit dem Titel „Der Tod ist ein Philosoph“ (Piper-Verlag) geschrieben. Er lebt mit seiner Familie in München und Südtirol.
Bilder: Manuel Stark