Angst kennt jeder. Doch ist sie nichts weiter als ein Instinkt – oder beeinflussen kulturelle Vorstellungen wann und wovor wir uns fürchten? Eine Historikerin und ein Neurowissenschaftler diskutieren.

Sie kennen sich nicht. Mehr noch. Sie haben noch nie eine Arbeit des anderen gelesen. Dabei verbindet sie nicht nur ihr Wohnort, Berlin: Beide wollen das Wesen menschlicher Emotionen ergründen. Die Historikerin Bettina Hitzer und der Neurowissenschaftler Andreas Ströhle. Sie erforscht die „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Dazu liest sie Krankenakten von Krebspatienten aus vergangenen Jahrzehnten. Er leitet die Ambulanz für Angsterkrankungen an der Charité. Sein Fokus liegt auf der Behandlung von Angststörungen.

Frau Hitzer, Herr Ströhle, was ist Angst?

Bettina Hitzer: Als Historikerin habe ich keine klare Definition von Angst. Mein Zugang ist zunächst zu fragen, was die Menschen selber unter Angst verstehen. Da merkt man schnell, eine ganz schlichte Definition von Angst gibt es nicht.

Andreas Ströhle: Wir Mediziner können ohne klare Definition natürlich nicht arbeiten. Ich würde Angst als eine Alarmreaktion beschreiben, die bei einer potentiellen Bedrohung auftritt und zur Mobilisierung von Energiereserven führt.

Hitzer: Aber muss die Bedrohung immer real sein? Das ist doch die interessante Frage, gerade wenn es darum geht, Angst zur Manipulation zu benutzen. Das heißt, die Angst war vielleicht unnötig, weil die Bedrohung gar nicht so groß war.

Ströhle: Im medizinischen Bereich reden wir nur von unnötiger Angst, wenn eine Erkrankung vorliegt. Ansonsten liegt es in der Natur der Sache, dass die Alarmreaktion angeschmissen wird, bevor ich die Situation wirklich evaluiert habe. Wir können immer erst im Nachhinein sagen, ob das nur ein Kater war, der da saß, oder ob ich vor dem Löwen erschreckt bin und meine Entscheidung aufzuspringen richtig war.

Dass wir vor dem Löwen aufspringen, rettet uns dann wahrscheinlich das Leben. Liegt der Ursprung der Angst in unserem Willen zu überleben?

Ströhle: Ohne die Angst würden wir uns in Gefahren begeben, die das Überleben des Individuums unmöglich machen würden.

Hitzer: Das leuchtet mir ein. Aber spielen nicht auch kulturelle Vorstellungen davon, was eine Bedrohung ist, eine Rolle, wann und wie wir Angst empfinden?

Ströhle: Kulturelle Dinge mögen da eine Rolle spielen. Aber ich denke schon, dass es klar aus der Menschheitsentwicklung heraus Prädispositionen gibt, auf bestimmte Dinge eher mit Angst zu reagieren als auf andere.

Die Angst hat sich also vor der Kultur entwickelt?

Ströhle: Ja. Angst ist bei Menschen und Tieren nicht viel anders. Da gibt es genau dieselben Angstreaktionen.

Hitzer: Man könnte das vielleicht mit dem Schmerz vergleichen. Schmerz ist auch eine Reaktion auf eine Bedrohung des

Bettina Hitzer ist Historikerin. Seit 2008 forscht sie am Max-Planck-Institut für Bildungswissenschaften in Berlin im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“. Für ihre kürzlich abgeschlossene Habilitation untersuchte Hitzer die „Emotionsgeschichte der Krebskrankheit im 20. Jahrhundert“. (Foto: Isabella Nadobny)

Körpers. Aber bei dem, was wir dann aus dem Schmerz oder der Angst machen, kommt, denke ich, wieder die Kultur ins Spiel. Auf einer ganz basalen Ebene würde ich Ihnen also recht geben. Das ist aber eine Ebene, an die ich als Historikerin gar nicht herankomme.

Obliegt Angst einem ständigen Wandel?

Hitzer: Angst ist ein universelles Gefühl. Aber auf einer sozialen oder kulturellen Ebene gibt es bestimmte Angstkulturen. Kulturen, die gewisse Vorstellungen und Erlebnisweisen von Angst unterschiedlich definiert haben. Und es gibt eine individuelle Ebene, die sich aus diesen Gruppenzugehörigkeiten zusammensetzt und das individuelle Erleben bestimmt.

Ströhle: Die Angstreaktionen, die wir im Klinischen sehen, sind relativ konstant. Sie wurden im 19. Jahrhundert beschrieben und haben sich nicht wesentlich verändert.

Sind Angstreaktionen auch in unterschiedlichen Kulturen gleich?

Ströhle: Relativ gleich. Es gibt bestimmte Besonderheiten, aber ansonsten sind Angstreaktionen über die Kulturen hinweg vergleichbar.

Hitzer: Aber was genau heißt das, wenn Sie sagen, die sind gleich geblieben? Sind die Bilder, die Menschen im 19. Jahrhundert benutzt haben gleich, oder sind die Reaktionen gleich? Ist das, was Freud über die Angstpsychose gesagt hat, etwa noch ein Begriff, mit dem Sie heute arbeiten würden?

Ströhle: Freud hat alles in einen Topf gepackt und in den 60er und 70er Jahren wurde wieder differenziert. Aber die unterschiedlichen Beschreibungen sind schon relativ alt.

Hitzer: Die Kritik ist oft, dass Konzepte und Therapien am westlichen weißen Subjekt entwickelt worden sind. Ob das weltweit gilt, da wäre ich doch sehr skeptisch, weil die medizinischen und psychiatrischen Ausbildungen in vielen Ländern sehr unterschiedlich sind. In Japan zum Beispiel gab es vor 30 Jahren kein der Depression vergleichbares Konzept, weil der Suizid dort eine ganz andere Bedeutung hatte und eben nicht als Symptom einer Depression verstanden wurde. Dann wurde eine Kampagne von Pharmafirmen ins Leben gerufen, um ein solches Konzept einzuführen.

Hat die Pharmaindustrie die Angststörungen erfunden?

Ströhle: So kann man das nicht sagen. Aber es gibt Industrien, die davon leben. Erfunden, wenn sie so wollen, wurde die Angststörung im 19. Jahrhundert. Damals wurden erstmals verschiedene Angsterkrankungen beschrieben, die wir heute größtenteils als Panikattacken bezeichnen würden.

Andreas Ströhle ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2002 leitet er die Ambulanz für Angsterkrankungen an der Berliner Charité. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München habilitierte Ströhle 2003 zum Thema „Neurobiologie von Angst“. (Foto: Isabella Nadobny)

Wer entscheidet darüber, wann eine gesunde, normale Angst zu einer Angststörung wird? Die Gesellschaft? Der Arzt?

Hitzer: Im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit haben Philosophen und Theologen sehr viel stärker zur Definition von Gefühlen beigetragen, insbesondere der Angst. Heute werden die Definitionen stärker von Medizinern und Psychiatern bestimmt. Die Gesellschaft übernimmt diese dann. Seit den 50er Jahren kann man eine sehr starke Dominanz der amerikanisch geprägten Psychiatrie erkennen.

Ist es denn eine positive Entwicklung, dass heutzutage Psychiater und Neurowissenschaftler die Angst definieren?

Ströhle: Wir definieren sie im pathologischen Bereich, wo Menschen damit beeinträchtigt sind, nicht im gesellschaftlichen.

Hitzer: Was pathologisch ist, wird dabei aber natürlich festgelegt. Wenn man sich die Geschichte des DSM, den diagnostischen und statistischen Katalog psychischer Störungen der American Psychiatric Association ansieht, kann man beobachten, dass sich die Grenzziehung zwischen dem, was gesunde Angst ist, oder überhaupt gesund ist, und dem, was als krankhaft angesehen wird, verändert hat.

Ströhle: Das hat sich nicht verändert. Pathologisch ist, was beeinträchtigt und behindert und das war schon immer so.

Hitzer: Sicherlich als Kriterium. Aber wer definiert denn, was beeinträchtigt und was behindert? Um ein Beispiel zu nennen: Bei der Depression gab es eine große Diskussion darüber, ab welchem Zeitraum man ein Gefühl anhaltender Trauer klinisch als Depression diagnostiziert. Das, was pathologisch ist, ist nicht immer eindeutig, sondern wird zum Beispiel heute aus Debatten von Psychiatern und Neurowissenschaftlern herausgefiltert.

Ströhle: Ob bei Depression oder Angst, es ist völlig egal, wie lang Symptome vorhanden sind. Wenn sie den Betroffenen nicht beeinträchtigen, sind sie keine Krankheit.

Hitzer: Was genau ist Beeinträchtigung? Das ist doch auch eine Sache, die in gesellschaftlichen und medizinischen Übereinkünften definiert wird.

Ströhle: Wenn ich die Dinge, die ich machen möchte, nicht machen kann.

Hitzer: Das überzeugt mich nicht. Das, was ich machen möchte, kann auch einfach meinen Fähigkeiten nicht angemessen sein. Dass ich nicht das machen kann, was ich möchte, reicht als Definition nicht aus.

In Prüfungssituationen empfinden viele beispielsweise eine Angst, die einen ganz und gar blockiert, die aber vielleicht nicht wiederkehrt, weil man einfach nicht mehr zu Prüfungen gehen kann. Ist das dann eine Prüfungsphobie?

Ströhle: Dann habe ich zwar aktuell kein Problem mit der Situation, weil ich sie vermeide, entwickle mich aber nicht nach meinen Möglichkeiten. Und im extremsten Fall stehe ich halt ohne Schulabschluss da. Das ist ja dann eine deutliche Beeinträchtigung.

Hitzer: Ja, aber wer leidet dann unter einer pathologischen Prüfungsangst? Derjenige, der sich weiter seiner Angst aussetzt, oder derjenige, der sagt, ‘dann weiche ich jeder Prüfung aus’?

Ströhle: In der Regel wird derjenige, der sich seiner Angst stellt, irgendwann Strategien erlernen, erfolgreich mit ihr umzugehen. Der andere, der vermeidet, läuft Gefahr, zunehmend auch andere Situationen zu meiden, weil er nie lernt, erfolgreich mit seiner Angst umzugehen. Trotzdem muss das nicht heißen, dass er eine klinisch-manifeste Angsterkrankung hat. Nur wenn er dadurch, dass er seiner Ressourcen nicht ausnutzt, einen Leidensdruck empfindet, würden wir von einer Angsterkrankung sprechen.

Frau Hitzer, Sie haben 2011 in einem Aufsatz geschrieben, dass in Zeiten des Neoliberalismus ein bestimmtes, gesellschaftliches Gefühlsideal herrscht, dem sich das Individuum beugen muss. Gilt das auch für die Angst?

Hitzer: Sicherlich. Dazu passt auch das Beispiel mit der Prüfungsangst. Denn, dass wir unsere „Ressourcen ausnutzen“ sollen, ist natürlich auch eine kulturell geprägte Vorstellung. In früheren Zeiten wäre eine Angst vor weltlichen Prüfungen womöglich als ein Zeichen gesehen worden, dass ich mich besser ins Kloster zurückzuziehen sollte. Ich glaube unsere Vorstellung davon, was ich mit meinem Leben erreichen und wie ich mit meinen Gefühlen umgehen soll, ist kulturell geprägt.

Sie schreiben weiter, dass es in den 70er und 80er Jahren zu einer „Emotionalisierung der Gesellschaft“ kam. Eines der Leitmotive: die Angst. Wie konnte es dazu kommen?

Hitzer: Davor sollte der rationale Mensch möglichst versuchen, seine Ängste zu kontrollieren. In den Friedensbewegungen und Anti-Atomkraftprotesten der 70er und 80er Jahre haben viele von der Politik Maßnahmen gefordert, um gewisse Angstszenarien zu verhindern. Damit wurde es legitim, über solche Ängste zu sprechen.

Heute wird vor allem mit Emotionen und besonders mit Angst Politik gemacht. Ist das die Konsequenz dieser Emotionalisierung?

Hitzer: Ja und nein. Es wäre sicher falsch zu denken, früher wäre nicht mit Angst Politik gemacht worden. Gefühle wurden schon immer instrumentalisiert. Aber die Art und Weise, wie zum Beispiel Medien über Gefühle sprechen, ist durchaus eine neue Erscheinung. Dass nach jedem Anschlag Umfragen durchgeführt werden, ob die Menschen jetzt Angst haben, auf die Straße zu gehen oder die U-Bahn zu benutzen. Damit suggeriert man, alle hätten Angst. Das ist eine neue Entwicklung.

Was passiert, wenn Medien Ängste ständig thematisieren?

Ströhle: Schauen Sie sich die USA an. Da haben wir gemerkt, zu was das führen kann.

Hitzer: Dadurch, dass man sehr viel über Gefühle redet, macht man sie natürlich auch sehr wichtig. Die Frage ist, wie redet man über diese Gefühle. Wenn man sich die Äußerungen von Trump anschaut, dann gibt es eine Art Hierarchisierung von Gefühlen und von Fakten – wenn es nur noch um das Gefühl geht, und nicht um die Verbindung zwischen Gefühl und Kognition, das ist das, was mit dem Begriff „postfaktisch“ gemeint ist.

Angst ist ein Problem, wenn sie einen im Alltag beeinträchtigt. Es gibt aber auch sehr viele erfolgreiche Menschen mit Angststörungen: Caesar hatte eine Katzenphobie, Darwin litt unter Agoraphobie und Panikattacken. Macht Angst erfolgreich?

Hitzer: Sehr starke und intensive Gefühle können etwa künstlerische Auseinandersetzung anregen und Entscheidungen antreiben.

Ströhle: Angst als Antrieb für Veränderung? Ich würde sagen, nur der erfolgreiche Umgang mit der Angst kann ein Motor für Veränderung sein.

Treibt Sie Angst an?

Ströhle: In Berlin auf dem Rad habe ich manchmal Todesangst. Das treibt mich zum defensiven Fahren an.

Hitzer: Mich plagt weniger die Angst auf dem Fahrrad als andere Ängste, wie Zukunftsängste. Ich frage mich häufig, warum hast du eigentlich genau davor so große Angst? Und ist es das überhaupt wert, Angst zu haben, oder macht dein Leben nicht etwas ganz anderes aus? Die Angst bringt mich dazu, über den Sinn meines Lebens nachzudenken.

Haben wir in 200 Jahren andere Angststörungen?

Ströhle: Möglicherweise ja, wobei ich mir nicht vorstellen kann, in welche Richtung es gehen wird. Aber durchaus möglich, dass die klinischen Symptome sich ändern, weil sich die Umwelt und die Anforderung an den Menschen ändern.

Hitzer: Dem kann ich nur zustimmen.

Bilder: Isabella Nadobny